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Evil Genius? Lohnt sich „Sieben gegen Sechs“ wirklich? – Teil 1: Die Philosophie

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  • Beitrag veröffentlicht:31. Oktober 2020
  • Lesedauer:11 min Lesezeit

Neben der Shotclock, war das zweite große Regel-Thema in der langen Corona-Sommerpause das „Sieben gegen Sechs“. Durch die 2016 eingeführte Regeländerung kann der Torwart für einen zusätzlichen Feldspieler ausgewechselt werden, ohne dass dieser fest gekennzeichnet sein muss. Umgekehrt kann auch ein beliebiger Spieler wieder zurückwechseln. Seit der Einführung ist die Regel umstritten. Mittlerweile finden sich unter Trainern und Fans jedoch kaum noch Fürsprecher für die aktuelle Regel.

Erfinder Dr. Rolf Brack

Auch schon vor 2016 konnte der Torhüter durch einen weiteren Feldspieler ersetzt werden. Der zusätzliche Mann musste jedoch ein Leibchen tragen und auch wieder mit dem Torhüter zurückwechseln. Deshalb gab es auch schon vor der Regeländerung Trainer, die auf dieses taktische Mittel setzten. Auch wenn der Einsatz nach 2016 deutlich zunahm.

Die „Erfindung“ des zusätzlichen Feldspielers wird Dr. Rolf Brack zugeschrieben. Als „taktische Verzweiflungstat“ habe er – wie er vor vier Jahren Handball Inside erzählte – 1997 in der 2. Liga mit Pfullingen das erste Mal das „Sieben gegen Sechs“ eingesetzt. Über die Jahre perfektionierte Brack diese Taktik mit dem HBW Balingen-Weilstetten, wo er von 2004 bis 2013 Trainer war. Mit Hilfe des zusätzlichen Feldspielers wurden diese zu unbeugsamen Galliern von der Alb.

Warum Brack so auf den zusätzlichen Feldspieler setzte: Die Zahlen sagten eindeutig, dass es sich lohnt! Brack war nicht nur Trainer, sondern ist auch Akademischer Oberrat an der Universität Stuttgart. Dort ging er das Thema wissenschaftlich an und betreute bis heute zahlreiche Abschlussarbeiten dazu.

Als der „Handballprofessor“ erfolgreich mit Balingen war, setzte praktisch niemand sonst auf den zusätzlichen Feldspieler. Es war wahrlich ein Geniestreich Bracks, denn die Gegner waren es nicht gewohnt gegen die Überzahltaktik des Teams aus dem Zollernalbkreis zu spielen. Heute nutzt jedes Team den zusätzlichen Feldspieler und jeder Gegner weiß, wie er dagegen verteidigt.

Auch wenn dies nie sein Plan war, scheint die „böse“ Seite seiner genialen Idee nun Überhand gewonnen zu haben. Sogar Brack selbst äußerte sich bereits kritisch gegenüber der aktuellen Regel. Gegenüber Handball Inside warnte er, dass das Spiel durch das Empty-Goal-Taktik in der Schablone erstarre und dies zu Lasten von Kreativität und Attraktivität gehe.

Nachteile sollen wettgemacht werden

Nachdem Rolf Brack bis Ende 2013 fast zehn Jahre lang Trainer in Balingen-Weilstetten war (wovon leider keine Daten vorliegen), kehrte der promovierte und habilitierte Sportwissenschaftler im September 2017 in die HBL zurück. Dort trainierte er FRISCH AUF! Göppingen bis Saisonende. 7,2 Mal pro Spiel ersetzte er bei den Grün-Weißen den Torhüter durch einen zusätzlichen Feldspieler. Der Ligaschnitt lag damals bei 5,0. Nur die Eulen Ludwigshafen ließen häufiger das Tor leer (7,4).

Bei Bracks vier Spiele langem Engagement beim HC Erlangen in der vergangenen Saison nutzte er den zusätzlichen Feldspieler 6,0 Mal. Dies war nur knapp über dem HBL-Durchschnitt von 5,7. Die Gegner Erlangens setzten während dieser Spiele hingegen 7,5 Mal auf die Empty-Goal-Taktik. Lediglich gegen Kiel wurde über die ganze letzte Saison häufiger ohne Torwart gespielt (7,7). Wobei vier Spiele natürlich auch nur bedingt aussagekräftig sind. Außerdem hatte der „Handballprofessor“ nicht wirklich Zeit hatte mit dem Team zu arbeiten und seine Philosophie einzubringen.

Während bei den Teams von Rolf Brack also ein Rückgang der Nutzung des zusätzlichen Feldspielers festzustellen war, ist in der HBL das Gegenteil der Fall. Stattdessen stieg die Anzahl von in den letzten drei Spielzeiten von 5,0 auf 5,7. Berücksichtigt man die leicht gesunkene Gesamtzahl der Angriffe, dann ist die Entwicklung sogar noch etwas stärker.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Wie häufig einzelne Teams auf den zusätzlichen Feldspieler setzen variiert stark. Allgemein kann gesagt werden, dass je besser das Team ist, desto weniger nutzen sie den zusätzlichen Feldspieler. Top-Teams wie die SG Flensburg-Handewitt (3,7 bis 4,4 Mal pro Spiel) und der SC Magdeburg (2,7 bis 4,3 Mal pro Spiel) haben diese taktische Möglichkeit in den vergangenen Spielzeiten am wenigsten genutzt. Bei beiden Teams stieg die Anzahl jedoch in den letzten drei Spielzeiten.

Bei den eher schwächeren Teams soll die geringere Qualität des Teams durch den zusätzlichen Feldspieler wettgemacht werden. Dies war auch der Ansatz, weshalb Rolf Brack damals überhaupt erst auf die Idee kam den zusätzlichen Feldspieler regelmäßig zu nutzen.

In den vergangenen drei Spielzeiten nutzten jeweils die Eulen Ludwigshafen den zusätzlichen Feldspieler am häufigsten. Wie auch schon bei der Spielzeit, versucht Ben Matschke hier die vorhandenen Regeln bestmöglich zum Vorteil seines Teams auszunutzen.

Doch wie bei jeder Regel gibt es Ausnahmen. Die Rhein-Neckar Löwen verpassten 2017/18 die Meisterschaft nur knapp. Gleichzeitig nutzte Nikolaj Jacobsens Team den zusätzlichen Feldspieler am vierthäufigsten. Eine Saison später 2018/19 nutzten sie die Option ohne Torwart zu spielen am fünfhäufigsten.

Auswärtsteams nutzen die Option des zusätzlichen Feldspielers deutlich häufiger als Gastgeber. Der Grund dafür ist im Prinzip der gleiche: Das Auswärtsteam versucht so den Heimvorteil zunichte zu machen. Wobei die Abweichung rückläufig ist. 2017/18 wurde der zusätzliche Feldspieler noch um 43,9 % häufiger von der Auswärtsmannschaft als vom Gastgeber genutzt. 2018/19 waren es nur noch 35,3 % mehr, 2019/20 nur noch 20,2 %.

Immer weniger „Sieben gegen Sechs“

Während in der Öffentlichkeit, wenn es um den zusätzlichen Feldspieler geht, meist vom „Sieben gegen Sechs“ gesprochen wird, setzen die Trainer in der HBL dies immer weniger ein. Durchschnittlich nutzte jedes Team in der Spielzeit 2017/18 den siebten Mann 1,2 Mal pro Spiel, 2019/20 waren es nur noch 0,9 Mal. Damit ist der Anteil des „Sieben gegen Sechs“ an allen Nutzungen des zusätzlichen Feldspielers in dieser Zeit von 24,3 % auf 15,6 % gesunken.

Aber auch hier gibt es wieder Teams, die von der Norm abweichen. Und es sind alte Bekannte: Nicolaj Jacobsens Löwen und Rolf Bracks Göppinger waren in den letzten drei Jahren die einzigen Teams, die deutlich häufiger auf das „Sieben gegen Sechs“ als den Ausgleich der Unterzahl setzten. Die Rhein-Neckar Löwen nutzten das „Sieben gegen Sechs“ 2017/18 4,2 Mal pro Spiel, 2018/19 waren es noch 3,6 Mal pro Spiel. Dies bedeutet Anteile von 65,7 % bzw. 51,9 %. Bei FRISCH AUF! 2017/28 waren es noch 3,1 Mal pro Spiel und ein Anteil von 46,2 %. Berücksichtigt man nur die Spiele mit dem „Handballprofessor“ an der Seitenlinie, steigen die Werte sogar noch leicht auf 3,6 und 49,5 %.

Allgemein wird der zusätzliche Feldspieler viel häufiger genutzt, wenn das eigene Team eigentlich in Unterzahl ist. 2017/18 wurde der zusätzliche Feldspieler bei Unterzahl 3,4 Mal pro Team und Spiel genutzt. 2019/20 waren es 4,4 Mal. Der Anteil an allen Nutzungen des zusätzlichen Feldspielers ist damit von 67,3 % auf 77,2 % gestiegen. Damit gibt es im Angriff praktisch keinen Nachteil mehr durch die eigene Unterzahl.

Die Eulen Ludwigshafen, die den zusätzlichen Feldspieler am meisten nutzten, setzten diesen auch hauptsächlich bei eigener Unterzahl (2019/20: 74,1 %) ein. Trotzdem nutzten sie das „Sieben gegen Sechs“ in der vergangenen Spielzeit mit 1,5 Mal pro Spiel am vierthäufigsten.

Noch mehr im Gegensatz zu den Ansätzen von Jacobsen und Brack stand in der vergangenen Saison das ehemalige Team des „Handballprofessors“, der HBW Balingen-Weilstetten. Dass sie viel auf den zusätzlichen Feldspieler setzen (7,3 Mal pro Spiel) ist kein Wunder, schließlich spielte Trainer Jens Bürkle selbst sieben Jahre unter Rolf Brack am Albrand. Den siebten Feldspieler nutzten sie jedoch im Gegensatz zu Brack nur unterdurchschnittlich oft (0,7). Dafür setzten sie so häufig wie kein anderes Team in den vergangenen drei Spielzeiten einen zusätzlichen Feldspieler bei gegnerischer Überzahl ein (5,8).

Neben all diesen verschiedenen Philosophien stellt sich jedoch vor allem eine Frage: Welche davon lohnt sich auch wirklich? Daraus folgt dann die zweite Frage: Ist Dr. Rolf Brack ein „böses“ Genie, das den Handball zum Leidwesen vieler effizienter machte? Dies wird im nächsten Artikel beantwortet.

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Julian Rux

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